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Zwei Romane eines Gelehrten

Artikel vom 31. Oktober 2016 zuletzt aktualisiert am 1. November 2016

“Lie­der wil­der Vögel“ (2015) und „Der jü­di­sche Fried­hof” (2016) – zwei Ro­ma­ne des in Sa­ra­je­vo le­ben­den Schrift­stel­lers und Koran­for­schers Enes Karić – be­schrei­ben ein­dring­lich Wel­ten, in denen Krieg und Frie­den auf­ein­an­der­pral­len, Glau­be und In­tel­lekt mit viel­fäl­ti­gen und ver­schlun­ge­nen Macht­struk­tu­ren kon­fron­tiert wer­den, und der Ein­zel­ne im oft le­bens­be­dro­hen­den Kampf gegen die je­weils Herr­schen­den bis aufs Äus­sers­te ge­for­dert wird.

In sei­nem frü­he­ren Werk, “Lie­der wil­der Vögel”,  spannt Karić einen gro­ßen Bogen zum spä­ten 16. Jahr­hun­dert bis hin in die ers­ten Jahr­zehn­te des 17. Jahr­hun­derts. Er webt einen Tep­pich, der viele Far­ben hat und in den er eine ganze Reihe Per­so­nen und Orte hin­ein­knüpft. Der junge Prot­ago­nist ver­läßt Mostar und seine weise, kräu­ter­kun­di­ge Mut­ter und geht als Lehr­ling des Ler­nens und Glau­bens auf Wan­der­schaft, und auf die Suche nach Leh­rern in den ver­schie­dens­ten Me­dres­sen, zu­nächst nach Sa­ra­je­vo, spä­ter auch nach Flo­renz und viel wei­ter.

Ghom  und Alep­po spie­len eine Rolle, das West­li­che Den­ken kon­tras­tiert mit dem Öst­li­chen in mi­nu­ti­ös ge­schil­der­ten Pre­dig­ten und Dis­kus­sio­nen. Man spürt das große Wis­sen des Koran­for­schers und Ge­lehr­ten auch beim Schrift­stel­ler Karic, dem es  ge­lingt, seine pro­fun­den his­to­ri­schen Kennt­nis­se im Roman ele­gant aus­zu­brei­ten. Die Schlacht von Le­pan­to, da­mals von Ve­ro­ne­se, heute von Twom­bly meis­ter­lich dar­ge­stellt, steht unter an­de­rem  im Roman für das Zu­sam­men­tref­fen der christ­li­chen und mus­li­mi­schen Welt, ein Zu­sam­men­tref­fen, wel­ches das Meer da­mals blut­rot färb­te und Wun­den hin­ter­liess, die hier im Roman und in der Welt bis heute spür­bar sind.

Es ist gleich­sam die Ge­schich­te eines Er­wach­sen­wer­dens, eines sich selbst Su­chen­den, eines  su­chend und rei­send die Welt Ent­de­cken­den  – um dabei ganz an­de­re Le­bens­for­men und Denk­wei­sen als die Ver­trau­ten ken­nen­zu­ler­nen. Der Leser er­fährt mit dem jun­gen Prot­ago­nis­ten viel über die je­wei­li­ge Kul­tur, er hört so­zu­sa­gen die Streit­ge­sprä­che der Ge­lehr­ten und die theo­lo­gi­schen Dis­kur­se mit, er­fährt aus den ver­schie­dens­ten Blick­win­keln gar Man­ches  über die be­reis­ten Städ­te und Stän­de. Dem jun­gen Mann ob­liegt es, die für ihn es­sen­ti­el­le Wahr­heit zu fin­den, sei­nen  Platz in der Welt als frei­es In­di­vi­du­um ein­zu­neh­men, und dabei als Mann, und auch als Ehe­mann, her­an­zu­rei­fen. Aus einem neu­gie­ri­gen Jun­gen wird ein Den­ken­der und Han­deln­der, der Ver­rat, Kampf und Ge­walt ken­nen­ge­lernt hat.

Somit be­steht auch eine tiefe Ver­bin­dung zu Enes Ka­rics jün­ge­rem Werk, “Der jü­di­sche Fried­hof”. Die Hand­lung fin­det Jahr­hun­der­te spä­ter statt, dies­mal in einem von Krieg, Hass, Ge­walt und Zer­stö­rung heim­ge­such­ten Sa­ra­je­vo. Hier durch­lei­det der, mit sei­nen Ge­schwis­tern dort­hin ver­schlepp­te, Junge Sadik, der fast noch ein Kind ist, aber im Krieg un­end­lich schnell her­an­rei­fen muss, Grau­en­vol­les. Er lernt not­ge­drun­gen, sich unter den bit­ters­ten Be­din­gun­gen durch­zu­kämp­fen, und in allen Si­tua­tio­nen ist er ganz auf sich selbst ge­stellt. Er muss um sein Leben kämp­fen, er­fährt wie die Ge­schwis­ter ihrem Schick­sal aus­ge­lie­fert sind, wie die Men­schen, die er liebt, in den Wir­ren des Krie­ges zu­grun­de gehen, den Kampf ver­lie­ren. Und er er­fährt zu­gleich, dass es Men­schen gibt, die das Gute, den Glau­ben, die Hoff­nung ver­kör­pern. 14 Jahre spä­ter er­zählt er im höl­län­di­schen Exil, sei­ner neuen Hei­mat dank des be­herz­ten Han­delns eines UN Sol­da­ten, sei­nen mit ihm ge­ret­te­ten Zwil­lings­nich­ten von all die­sen Er­fah­run­gen. Man spürt, wie das Herz des Au­tors auch für “sein” Sa­ra­je­vo blu­tet, und auch, wie er  an die Kraft des Über­le­bens, des Hel­fens, der Liebe  und an die  Zu­kunft und den Frie­den glaubt.
Dr. Chris­tia­ne Clemm ist Lehr­be­auf­trag­te für Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft und Li­te­ra­ri­sches Über­set­zen im In­sti­tut für An­glis­tik an der LMU Mün­chen.

Wir haben Dr. Enes Karić in der Zeit sei­ner Al­li­anz Gast­pro­fes­sur für Is­la­mi­sche Stu­di­en an der LMU Mün­chen im WS 2008/2009 zu­nächst „nur“ als Wis­sen­schaft­ler ken­nen ge­lernt. Seine er­zäh­le­ri­sche Be­ga­bung fan­den wir dann in den Rei­se­no­ti­zen eines bos­ni­schen Mek­ka­pil­gers, in dem 2009 in Mün­chen er­schie­ne­nen Büch­lein „Die schwar­ze Tulpe“ (s. auch Buch­tipps). Viele an­de­re Sei­ten sei­ner gro­ßen Per­sön­lich­keit er­leb­ten wir spä­ter auf der Reise in seine Hei­mat, zu der er uns im Früh­som­mer 2012 ein­lud und wo er sich in Sa­ra­je­vo und Mostar als groß­ar­ti­ger Or­ga­ni­sa­tor und Gast­ge­ber er­wies (s. Rei­se­be­richt in die­ser Web­site).

Nie­mand von uns hätte je­doch er­war­tet, dass Karić sich nun auch in zwei ge­wich­ti­gen Ro­ma­nen zu Wort mel­den würde, deren Ori­gi­nal­aus­ga­ben im Ver­lag Tugra, Sa­ra­je­vo, be­reits 2009 (Lie­der wil­der Vögel) und 2011 (Der jü­di­sche Fried­hof) er­schie­nen sind. Wir dan­ken Chris­tia­ne Clemm, dass sie den sehr um­fang­rei­chen Stoff mit einer un­ge­heu­er gro­ßen An­zahl von Per­so­nen „be­wäl­tigt“ hat und uns einen guten Ein­druck davon ver­mit­telt, was Karić mit sei­nen Tex­ten auch be­ab­sich­tigt, näm­lich zu einem Dia­log zwi­schen den Re­li­gio­nen zu er­mun­tern; ein Thema, das ihm sehr am Her­zen liegt und zu dem er auch eine Reihe wis­sen­schaft­li­cher Bei­trä­ge ge­lie­fert hat; siehe dazu die Quel­len in Wi­ki­pe­dia „Enes Karić“. Dort fin­det sich auch der Hin­weis auf ein In­ter­view mit ihm aus dem Jahr 2014 mit in­ter­es­san­ten Über­le­gun­gen zum Thema „Der chist­li­che Osten und der is­la­mi­sche Wes­ten“ >> igbd.​org/​wp…/ENES-KA­RIC-IN­TER­VIEW-IN-DI­WAN-GER­MAN-LAN­GUA­GE.pdf).

Lieder wilder Vögel
Lie­der wil­der Vögel

Enes Karić, Über­set­zer Sead Mujić, Lie­der wil­der Vögel, Ver­lag Hans Schi­ler, Ber­lin/Tü­bin­gen 2015, 368 S., brosch., ISBN 978-3-89930-004-8, 19,90 €

Beide Bände sind mit einem aus­führ­li­chen Glos­sar aus­ge­rüs­tet. in dem die au­then­ti­schen Namen von Per­so­nen iund Ort­schaf­ten sowie viele zeit- und re­li­gi­ons­ge­schicht­li­che Be­grif­fe er­klärt wer­den.

Der Jüdische Friedhof
Der Jü­di­sche Fried­hof

Enes Karić, Über­set­ze­rin Sil­via Sladić, Der Jü­di­sche Fried­hof, Ver­lag Hans Schi­ler, Ber­lin/Tü­bin­gen 2016, 566 S., brosch. ISBN 978-3-89930-005-5, 19,90 €