“Lieder wilder Vögel“ (2015) und „Der jüdische Friedhof” (2016) – zwei Romane des in Sarajevo lebenden Schriftstellers und Koranforschers Enes Karić – beschreiben eindringlich Welten, in denen Krieg und Frieden aufeinanderprallen, Glaube und Intellekt mit vielfältigen und verschlungenen Machtstrukturen konfrontiert werden, und der Einzelne im oft lebensbedrohenden Kampf gegen die jeweils Herrschenden bis aufs Äusserste gefordert wird.
In seinem früheren Werk, “Lieder wilder Vögel”, spannt Karić einen großen Bogen zum späten 16. Jahrhundert bis hin in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts. Er webt einen Teppich, der viele Farben hat und in den er eine ganze Reihe Personen und Orte hineinknüpft. Der junge Protagonist verläßt Mostar und seine weise, kräuterkundige Mutter und geht als Lehrling des Lernens und Glaubens auf Wanderschaft, und auf die Suche nach Lehrern in den verschiedensten Medressen, zunächst nach Sarajevo, später auch nach Florenz und viel weiter.
Ghom und Aleppo spielen eine Rolle, das Westliche Denken kontrastiert mit dem Östlichen in minutiös geschilderten Predigten und Diskussionen. Man spürt das große Wissen des Koranforschers und Gelehrten auch beim Schriftsteller Karic, dem es gelingt, seine profunden historischen Kenntnisse im Roman elegant auszubreiten. Die Schlacht von Lepanto, damals von Veronese, heute von Twombly meisterlich dargestellt, steht unter anderem im Roman für das Zusammentreffen der christlichen und muslimischen Welt, ein Zusammentreffen, welches das Meer damals blutrot färbte und Wunden hinterliess, die hier im Roman und in der Welt bis heute spürbar sind.
Es ist gleichsam die Geschichte eines Erwachsenwerdens, eines sich selbst Suchenden, eines suchend und reisend die Welt Entdeckenden – um dabei ganz andere Lebensformen und Denkweisen als die Vertrauten kennenzulernen. Der Leser erfährt mit dem jungen Protagonisten viel über die jeweilige Kultur, er hört sozusagen die Streitgespräche der Gelehrten und die theologischen Diskurse mit, erfährt aus den verschiedensten Blickwinkeln gar Manches über die bereisten Städte und Stände. Dem jungen Mann obliegt es, die für ihn essentielle Wahrheit zu finden, seinen Platz in der Welt als freies Individuum einzunehmen, und dabei als Mann, und auch als Ehemann, heranzureifen. Aus einem neugierigen Jungen wird ein Denkender und Handelnder, der Verrat, Kampf und Gewalt kennengelernt hat.
Somit besteht auch eine tiefe Verbindung zu Enes Karics jüngerem Werk, “Der jüdische Friedhof”. Die Handlung findet Jahrhunderte später statt, diesmal in einem von Krieg, Hass, Gewalt und Zerstörung heimgesuchten Sarajevo. Hier durchleidet der, mit seinen Geschwistern dorthin verschleppte, Junge Sadik, der fast noch ein Kind ist, aber im Krieg unendlich schnell heranreifen muss, Grauenvolles. Er lernt notgedrungen, sich unter den bittersten Bedingungen durchzukämpfen, und in allen Situationen ist er ganz auf sich selbst gestellt. Er muss um sein Leben kämpfen, erfährt wie die Geschwister ihrem Schicksal ausgeliefert sind, wie die Menschen, die er liebt, in den Wirren des Krieges zugrunde gehen, den Kampf verlieren. Und er erfährt zugleich, dass es Menschen gibt, die das Gute, den Glauben, die Hoffnung verkörpern. 14 Jahre später erzählt er im hölländischen Exil, seiner neuen Heimat dank des beherzten Handelns eines UN Soldaten, seinen mit ihm geretteten Zwillingsnichten von all diesen Erfahrungen. Man spürt, wie das Herz des Autors auch für “sein” Sarajevo blutet, und auch, wie er an die Kraft des Überlebens, des Helfens, der Liebe und an die Zukunft und den Frieden glaubt.
Dr. Christiane Clemm ist Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft und Literarisches Übersetzen im Institut für Anglistik an der LMU München.
Wir haben Dr. Enes Karić in der Zeit seiner Allianz Gastprofessur für Islamische Studien an der LMU München im WS 2008/2009 zunächst „nur“ als Wissenschaftler kennen gelernt. Seine erzählerische Begabung fanden wir dann in den Reisenotizen eines bosnischen Mekkapilgers, in dem 2009 in München erschienenen Büchlein „Die schwarze Tulpe“ (s. auch Buchtipps). Viele andere Seiten seiner großen Persönlichkeit erlebten wir später auf der Reise in seine Heimat, zu der er uns im Frühsommer 2012 einlud und wo er sich in Sarajevo und Mostar als großartiger Organisator und Gastgeber erwies (s. Reisebericht in dieser Website).
Niemand von uns hätte jedoch erwartet, dass Karić sich nun auch in zwei gewichtigen Romanen zu Wort melden würde, deren Originalausgaben im Verlag Tugra, Sarajevo, bereits 2009 (Lieder wilder Vögel) und 2011 (Der jüdische Friedhof) erschienen sind. Wir danken Christiane Clemm, dass sie den sehr umfangreichen Stoff mit einer ungeheuer großen Anzahl von Personen „bewältigt“ hat und uns einen guten Eindruck davon vermittelt, was Karić mit seinen Texten auch beabsichtigt, nämlich zu einem Dialog zwischen den Religionen zu ermuntern; ein Thema, das ihm sehr am Herzen liegt und zu dem er auch eine Reihe wissenschaftlicher Beiträge geliefert hat; siehe dazu die Quellen in Wikipedia „Enes Karić“. Dort findet sich auch der Hinweis auf ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2014 mit interessanten Überlegungen zum Thema „Der chistliche Osten und der islamische Westen“ >> igbd.org/wp…/ENES-KARIC-INTERVIEW-IN-DIWAN-GERMAN-LANGUAGE.pdf).
Enes Karić, Übersetzer Sead Mujić, Lieder wilder Vögel, Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2015, 368 S., brosch., ISBN 978-3-89930-004-8, 19,90 €
Beide Bände sind mit einem ausführlichen Glossar ausgerüstet. in dem die authentischen Namen von Personen iund Ortschaften sowie viele zeit- und religionsgeschichtliche Begriffe erklärt werden.
Enes Karić, Übersetzerin Silvia Sladić, Der Jüdische Friedhof, Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2016, 566 S., brosch. ISBN 978-3-89930-005-5, 19,90 €