Etwa 1700 Jahre liegen zwischen der Herstellung des in einem skythischen Fürstengrab entdeckten Pazyrykteppichs und den in türkischen Moscheen gefundenen, seldschukischen Teppichen. Doch was war dazwischen? Eine Gruppe kleinerer und größerer Teppichfragmente aus dem 3. bis zum 7. Jahrhundert, gefunden im Norden von Afghanistan, hat in die Sammlung von Scheich Nassar Sabeh von Kuwait gefunden und wird von Friedrich Spuhler in seinem Buch über vorislamische Teppiche und Textilien vorgestellt.
Unser Mitglied Dr. Friedrich Spuhler stellte uns die von ihm in der Sammlung gefundenen sasanidischen Fragmente exclusiv in einem Vortrag am 28.6.2010 vor. Nun ist sein damals angekündigtes Buch, in dem diese „aufregendsten Entdeckungen der jüngeren Teppichgeschichte“ ausführlich behandelt werden, erschienen. Dr, Michael Buddenberg – ebenfalls Mitglied unserer Gesellschaft – hat in der von ihm betreuten Website der Preetorius Stiftung (deren stv. Vorsitzender er ist) eine ausführliche Besprechung veröffentlicht, die wir hier mit seiner Zustimmung vollständig wiedergeben.
Stellen Sie sich vor, Sie erhalten eine Handvoll Puzzleteile mit der Aufgabe, daraus ein Bild zu formen, ohne eine Vorlage und ohne zu wissen, aus wie vielen Teilen das fertige Bild überhaupt besteht. So ungefähr ist die Situation der Teppichwissenschaft, wenn es darum geht, ein Bild von der Entstehung und Entwicklung der Knüpfkunst zu zeichnen. Bis zum Jahre 1949 schien diese Aufgabe gut lösbar, denn die ältesten damals bekannten Teppiche aus Türkischen Moscheen, wie sie in Konya oder Istanbul verwahrt werden, stammten aus dem 13. Jahrhundert, und aus der Zeit danach gab es, sei es als Original oder als Wiedergabe in Bildern europäischer Maler, ausreichend Material, um in groben Zügen eine Entwicklung zu erschließen.
Doch dann entdeckte der russische Archäologe Sergei Rudenko 1949 im sibirischen Altai-Gebirge in einem schon bald nach seiner Errichtung geplünderten und seither im Permafrost als Eisblock konservierten skythischen Fürstengrab einen Knüpfteppich, der alles, was die Teppichwissenschaft zur Entstehung und zum Alter der Knüpfkunst bislang beigetragen hatte, zur Makulatur machte. Dieser in der Eremitage in St. Petersburg aufbewahrte und nach seinem Fundort „Pazyryk“ genannte Teppich wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. geknüpft und ist in Technik, Farbgebung, Feinheit und Design von solch erlesener Qualität, dass ihm eine nach vielen Generationen zu bemessende Zeitspanne vorangegangen sein muss. Das Rätsel der Herkunft des „Pazyryk-Teppichs“ ist bis heute nicht gelöst und es besteht kaum archäologische Hoffnung zu seiner Auflösung. Doch was ist mit dem Zeitraum zwischen Pazyryk und Konya, einem Zeitraum von mehr als anderthalb Jahrtausenden? Kleine Knüpffragmente aus den Ausgrabungen von Fostat, aus den Funden von Sir Aurel Stein in den Höhlen von Dunhuang oder aus jüngeren chinesischen Grabungen in Ost-Turkestan haben außer der latenten Existenz von Teppichen kaum Essentielles beigetragen.
So sind die nun von Friedrich Spuhler erstmals vorgestellten, beschriebenen und abgebildeten sasanidischen Teppichfragmente aus der Sammlung von Scheich Nassar Sabah von Kuwait eine echte Sensation für die Teppichwissenschaft. In seinem Vorwort wagt Scheich Nassar Sabah sogar zu hoffen, dass sie die Lücke zwischen dem Pazyryk und den Konya-Fragmenten füllen könnten oder zumindest eine Entwicklungslinie erkennen lassen, eine Hoffnung, die Friedrich Spuhler enttäuschen muss. Zwar lassen sich aus den gut drei Dutzend kleineren und größeren Fragmenten, die radiocarbondatiert, aus dem 3. bis zum 7. Jahrhundert n. Chr. stammen, immerhin die Größe und die Musterung von drei Teppichen rekonstruieren. Doch ist weder technisch noch stilistisch irgendein Zusammenhang mit bekannten Teppichen herzustellen.
Die sasanidischen Fragmente, so benannt nach ihrem Alter und dem Fundort im nördlichen Afghanistan, das damals zum großpersischen Reich gehörte, sind Reste von Dorf- und Nomadenteppichen, geknüpft für den eigenen Bedarf und zum Schutz vor Kälte und Feuchtigkeit. Die besondere, dem Gebrauchszweck geschuldete, grobe Knüpftechnik und die wohl der Lebens- und Vorstellungswelt ihrer unbekannten Schöpfer entlehnten Muster und Ornamente, lassen mehr Fragen entstehen als sie beantworten, und so muss man wohl sagen – um bei dem eingangs gezeichneten Bild zu bleiben – dass der vermutliche Umfang jenes rätselhaften Puzzles noch größer ist als bisher angenommen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass diese sasanidischen Fragmente die aufregendsten Entdeckungen der jüngeren Teppichgeschichte sind, etwas, auf das Friedrich Spuhlers Lehrer, der Teppichwissenschaftler Kurt Erdmann (1901-1964) sein Leben lang gewartet hat. Es ist ein sowohl sinnliches wie historisch wissenschaftliches Vergnügen, mit Friedrich Spuhler die wundervollen Farben dieser Teppichfragmente zu erkunden, die vermutlich der Jagd und mythologischen Vorstellungen entlehnten Muster – Hirsche, geflügelte Pferde, der Kopf eines Tigers oder Leoparden – zu untersuchen und das alles in den historischen Kontext einzuordnen, wie ihn etwa die Wandmalereien aus Dunhuang, Panjikent oder Afrasiab bilden oder Ausgrabungen von Objekten entlang der Seidenstrasse. Leider und wie so oft, gibt es keinen weiterführenden archäologischen Fundzusammenhang. Mehr als das Überleben dieser Fragmente in einer Höhle in der im Norden Afghanistans gelegenen Provinz Samangan, ist nicht bekannt geworden und so müssen sich Autor und Leser damit begnügen, was die Stücke selbst erzählen. Genaue Beschreibungen, Strukturanalysen, hervorragende Farbabbildungen der Fragmente und vor allem zahlreiche seitengroße Detailwiedergaben erschließen diesen textilen Schatzfund so gut es geht und regen an, die Phantasie spielen zu lassen.
In den zeitlichen Zusammenhang gehörend, also grob gesprochen „aus vorislamischer Zeit“ und, etwas genauer, aus dem Kulturraum der Sasaniden und Sogden des 4. bis 9. Jahrhunderts, werden von Spuhler über die Teppichfragmente hinaus auch knapp zwei Dutzend Seidenfragmente aus der kuwaitischen Sammlung vorgestellt. Sie sind gegenüber den Teppichfragmenten weit weniger sensationell, da solche Stoffe schon sehr früh Europa erreichten, sich in Kirchenschätzen als Reliquienhüllen oder in den Sarkophagen bedeutender Zeitgenossen erhalten haben und, gewissermaßen in einer zweiten Welle, in den vergangenen zwanzig Jahren aus Tibet in den Westen gelangten. Dennoch ist die kuwaitische Sammlung in Qualität, Größe und Erhaltung der einzelnen Textilfragmente sehr bedeutend und für diesen exquisiten Bereich textiler Kunst äußerst repräsentativ. Die nahezu komplette Ikonographie dieser überwiegend in Seiden-Samit ausgeführten Stoffe, die sich über Jahrhunderte von China über Zentralasien bis nach Byzanz großer Beliebtheit erfreuten, ist hier präsent. Wir sehen, einzeln oder paarweise, häufig im typischen Perlkranz, Pferd, Hirsch, Elefant und Widder, Pfauen, Vögel, Enten und allerlei mythisches Getier, geflügelte Pferde und Senmurfen. Auch hier lassen Beschreibung, Abbildung und Hinweise auf den historischen Kontext, wie ihn etwa Textildarstellungen in den Wandmalereien von Afrasiab oder auf den Felsreliefs von Taq-i-Bustan bilden, keine Wünsche offen. Mehr noch als mit dem 2012 erschienenen Band über die Teppiche des 15. bis 18. Jahrhunderts aus der Kuwait-Sammlung hat Friedrich Spuhler mit dem Buch über präislamische Teppiche und Textilien einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaft geleistet.
Friedrich Spuhler
Pre-Islamic Carpets and Textiles from Eastern Lands, 160 S., zahlreiche Abbildungen, Thames & Hudson London 2014, ISBN 978-0-500-97054-6, 25 £, bei amazon Deutschland 39,90 €