In einem faszinierenden und die Verflechtungen und gleichzeitig Gegensätze aufzeigenden Buch über die westöstlichen Beziehungen zum Thema Blick, ermöglicht der renommierte Kunsthistoriker Hans Belting dem sowohl an arabischem wie europäischen Gedankengut interessiertem Leser einen facettenreichen Einblick in die Welt des Schauenden und Geschauten, der Vorstellung und der Wahrnehmung, des Sehens und Gesehen-Werdens und damit des Verstehens und Begreifens.
In sechs Kapiteln nimmt er uns mit auf eine kurzweilige und ausgezeichnet mit Bildmaterial versehene Reise von der Antike über die Renaissance in die Moderne, mit einem ausgiebigen Aufenthalt in Florenz als Zentrum der Künste (vor allem in der Zeit der Medicis). Er entführt in die Welt der Arabesken, Moscheen, Wissenschaftler, Kalifen und Schriftgelehrten unter dem Halbmond und verknüpft, hierbei interdisziplinär vorgehend, die westlichen und östlichen Gedankenwelten und die Art und Weise wie die Menschen in diesen höchst unterschiedlichen Kulturen die Welt bildlich darstellen, betrachten, betrachten dürfen.
Das sogenannte Bilderverbot einerseits in der Welt des Islam, das zu einer Hochblüte der Kalligraphie führte, zu einer Durchdringung der Schrift durch den Inhalt des Glaubens und zu einer Pracht an Floralem und Arabeskem in den Moscheen, und das immer präzisere und gleichzeitig auch interpretierende Abbilden des Geglaubten und damit auch vermeintlich als Wirklichkeit, als höchst individuell wahrgenommene Realität, in der Kunst des Westens, thematisiert Belting mit vielen Beispielen aus der Architektur und Malerei und Photographie.
Die Entdeckung der Perspektive, die Verschiebung des Horizonts in der Malerei des Westens, die Einbeziehung von Spiegeln, nicht nur zur Selbst-Erkenntnis und als technisches Hilfsmittel bei der Entstehung eines Selbstporträts als Selbstreflektion, sowie die Verwendung des Fensters im Bild um nicht nur in die Welt hinaus zu schauen oder (für den Betrachter) in den Raum hinein zu wandern, sondern auch als Möglichkeit der Dargestellten aus dem Bild heraus-zu-blicken, all das brachte immer wieder neue Blickpunkte und Blickarten und Blickwechsel in der Kunst ins Spiel.
Je mehr die Welt des Ostens und des Westens, die Welt des islamischen Halbmonds und diejenige der Sol invictus Sonne des Christentums einander begegneten und beeinflussten, desto mehr fanden sich vor allem in der europäischen Malerei Spuren der Kultur des jeweils Anderen. Die Ornamente der Teppiche in den minutiös gemalten Interieurs, die Blütenpracht des Hortus Conclusus sind nur zwei Beispiele dafür. Handlungsreisende brachten aus dem Orient Kostbarkeiten mit, deren Ornamentik Eingang fand in Bilder, Räume, als Dekor auf Porzellan und als Motivvorlage in den Webereien.
Belting zeigt aber auch, wie weit entfernt die Blickweise des westlichen Menschen von der des östlichen Menschen ist. Wo der direkte Blick verboten – vor allem zwischen den Geschlechtern – und die Darstellung des Göttlichen und des Menschlichen in der Kunst nicht möglich ist, sucht man andere Wege das Immanente und das Transzendente darzustellen. Hier kommt der Entwicklung der Geometrie, der Kalligraphie und der arabesken Form eine große Bedeutung zu. Auch die Formensprache der religiösen Architektur soll Inhalte vermitteln, die in der westlichen Malerei augenscheinlich viel einfacher und auf den ersten Blick verständlicher erscheinen.
Wenn wir Giottos Biblia Paupera in Assisi an den Wänden in den Fresken „lesen“, glauben wir das Leben des Heiligen Franzsikus zu verstehen – aber bleiben wir mangels theologischem und ikonographischem Wissens manchmal nicht wie Analphabeten vor den großen Werken der europäischen Malerei stehen? Und kann der des Lesens nicht kundige Gläubige in einer prachtvoll mit Fliesen ausgestatteten Moschee ohne die Interpretationsbrücke, die der Imam ihm in der Predigt, in der Auslegung, baut, den Weg zu den Inhalten der Suren alleine immer finden ?
Hans Belting bietet neben einer Myriade an hochinteressanten Fakten auch viele anregende Interpretationsansätze und Thesen. Er gewährt dem interessierten Leser mitunter auch kontroverse Einblicke und Ausblicke und veranlasst ihn dazu, mit weit geöffneten Augen beim nächsten Besuch einer iranischen Moschee, einer Florentiner Kirche, der Pinakotheken oder einem Serail Neues und faszinierend Fremdes sowie immer schon vertraut Geglaubtes – aber bisher doch noch nicht ganz Wahrgenommenes – aus einer frischen Perspektive zu entdecken.
Dr. Christiane Clemm ist Lehrbeauftragte für Literaturwissenschaft und Literarisches Übersetzen im Institut für Anglistik an der LMU München.
Hans Belting Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, 319 Seiten, 109 Abbildungen, davon 45 in Farbe, München C.H.Beck ³2009, ISBN 978-3-406-57092-6, gebundene Ausgabe 29,90 €. Seit 2012 gibt es in der Beck’schen Reihe – bsr 6019 – auch eine Paperback Ausgabe (ISBN 978-3-406-63273-0) für 19,95 €.