Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
Diese auf einer von Rudolf Koch und Fritz Kredel für den Insel Verlag 1934 gezeichneten Deutschlandkarte zu lesenden Zeilen haben sich mir seit den frühen 50er Jahren unvergesslich eingeprägt. Meine Eltern hatten diese dekorative Karte über mein Bett gehängt und neben den vielen in Form einprägsamer Symbole dargestellten Orten hatte ich den an markanter Stelle platzierten Vierzeiler immer vor Augen. Fast sieben Jahrzehnte mussten dann vergehen bis ich durch die Lektüre von Karl-Josef Kuschels Beitrag in EOTHEN VIII realisierte, dass dieser Vierzeiler aus der Feder von Goethe stammt. Wohl kein deutscher Dichter hatte so viel Interesse für den Orient, für seine Geschichte, Kultur und Literatur aber auch für seine Religion, schreibt Kuschel und findet etwa im „Diwan“ zahlreiche Parallelen und Hinweise zum Koran. Kuschels Beitrag lässt staunen, auf welchem Niveau und mit welcher Komplexität Goethe die Welt des Islam wahrgenommen und rezipiert hat.
So wie ich, wird jeder in dem gerade erschienenen und reich illustrierten Band VIII von EOTHEN mit nicht weniger als 23 Beiträgen auf fast 700 Seiten viel Neues, Faszinierendes, Informatives und Überraschendes zur Geschichte der Islamischen Kunst und Kultur finden.
Bleiben wir gleich bei der Literatur. Nichts könnte besser zu Kuschels Essay passen wie Peter-Arnold Mumms Beitrag über Friedrich Rückert (1788-1866), welcher sich ebenfalls intensiv mit orientalischer Poesie befasst hat. Mumm stellt Rückert, der 42 Sprachen beherrscht haben soll, als einen nur mit Paganini vergleichbaren Virtuosen in Sprachwissenschaft, Philologie und Übersetzungskunst vor. Ausgehend von der These, dass alle Sprachen der Menschheit letztlich eines Ursprungs sind, verstand sich Rückert als Mittler im großen Kreislauf weltweiter Kommunikation. Seine geniale, wenn auch unvollendet gebliebene Koranübersetzung ist, wie Goethes Diwan, eine frühe Hommage an die islamische Literatur. Natürlich hat sich Rückert auch mit dem Nationalepos des Iran, dem von Firdousi um das Jahr 1000 verfassten Shahnameh oder „Königs-Buch“ befasst. Es sollte das Vorbild werden für alle späteren Shahnameh, die das Leben und die Taten iranischer Herrscher priesen. Zu diesem Thema geht Sarah Kiyanrad der Frage nach, warum gleich vier von dem ersten Safawiden-Shah Ismail (1487-1524) in Auftrag gegebene Verschroniken über sein Leben und seine Taten unvollendet blieben und erst unter seinem Sohn und Nachfolger Tahmasp das erste safawidische Shahnameh seinen Abschluss fand. Ismail mag schlicht daran gescheitert sein, dass er nicht die geeigneten Autoren beauftragt hatte, die es vermochten, die Verankerung der Dynastie in der Geschichte und damit eine Legitimation seiner Herrschaft überzeugend darzustellen. Als einen wiederkehrenden Bestandteil in diesen Verschroniken und besonders in den Dichtungen von Hafis (1325/6-1390) und Sa´di (1210-1292) preist Mehr Ali Newid eine poetische Vielfalt und Kreativität, die vor allem die Schönheit von Frauen zum zentralen Thema einer Symbolsprache macht, in der Vergleiche erotischer weiblicher Merkmale mit Bildern aus der Tier- und Pflanzenwelt und gar dem Kosmos von Sonne, Mond und Sternen kaum noch Grenzen kennen. Nach dieser breit gefächerten Literaturschau kann es dann nicht mehr verwundern, dass Stefan Weidner in seinem Beitrag zu dem Ergebnis gelangt, dass die Literaturen des Orients ohne Zweifel Bestandteil der Weltliteratur sind, wobei die „Tausendundeine Nacht“ und Salman Rushdies “Satanische Verse“ als extreme Positionen im polykulturellen Imaginationsraum Orient die Vielfalt dieser Weltliteratur zum Ausdruck bringen.
Mit Yahya Kouroshis Beitrag über Hegels Hafis-Lektüre im Rahmen seiner Berliner Ästhetik-Vorlesungen (1820-1829) kommen wir von der Literatur zur Kunst und müssen zur Kenntnis nehmen, dass bei aller Perfektion und Schönheit der Poesie von Hafis auch Hegel aus dieser fremden und fernen Welt keine Antwort auf den Versuch finden konnte, Kunst zu definieren. Hier mag trösten, dass an diesem Versuch auch Goethe und Generationen von Philosophen und Rechtsgelehrten bis hin zum Deutschen Bundesgerichtshof scheiterten. Kein Zweifel an ihrer Kunsteigenschaft ist dann allerdings bei den zehn Miniaturen aus der Sammlung des 2021 verstorbenen Alessandro Bruschettini angebracht, die von Claus Peter Haase detailliert vorgestellt werden. Es sind allesamt Highlights der iranischen und mogul-indischen Miniaturkunst aus deren Blütezeit im 16. Jahrhunderts, wobei etwa die Szene, wie ein Löwe den späteren Shah Jahangir angreift auch einen dramatischen Höhepunkt setzt.
Shahnameh und Miniaturen, Handschriften und Originale, wo da bleiben die Kunst des Druckens und der Vervielfältigung im innovativen Orient? Helga Rebhan berichtet anlässlich ihres Essays über die arabischen Block- und Frühdrucke in der Bayerischen Staatsbibliothek, dass die Anfänge des Buchdrucks mit arabischen Lettern nicht im islamisch geprägten Kulturraum liegen, sondern in Europa. Der Koran in seiner originalen arabischen Sprachform wurde zum ersten Mal 1537/38 in Venedig gedruckt und erst im 18. Jahrhundert begann in Konstantinopel der Druck mit arabischen Schriftzeichen. Gleichsam umgekehrt dauerte es bis zum 19. Jahrhundert, bis sich westliche Kreativität ein Verfahren ausdachte, wie islamische Metallobjekte zu reproduzieren wären. Anja Dreiser berichtet über das am Bayerischen Gewerbemuseum in Nürnberg um 1875 entwickelte Verfahren, galvanoplastische Reproduktionen islamischer Metallarbeiten herzustellen und stellt erstaunt fest, dass sich keine der erhaltenen Reproduktionen auf ein vorhandenes Original zurückverfolgen lässt.
Im Gegensatz zum Bayerischen Gewerbemuseum und dessen Ziel, das zeitgenössisches Handwerk zu fördern, hatten (und haben) die Berliner Museen stets die Kunst und Kultur im Auge. Jens Kröger würdigt den Einfluss des Berliner Sammlers, Mäzens und langjährigen ehrenamtlichen Mitarbeiters des Berliner Museums, Friedrich Sarre (1845-1945), dessen universal historisches Interesse und dessen Sammlungen bis heute den besonderen Charakter des Museums für Islamische Kunst in Berlin prägen.
Bleiben wir bei der Kunst und machen einen Zeitsprung mitten ins 20. Jahrhundert. Schon unter den Qajaren hatte sich der Iran mehr und mehr, auch in der Kunst, am Westen orientiert, doch erst in der 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts präsentierten junge iranische Künstler eine ganz neue Selbständigkeit und befreiten sich vom überkommenen Rollenverständnis staatlicher Bevormundung. Parastoo Jafari konstatiert für diese Zeit einen Verlust staatlicher Patronage und eine wachsende Unabhängigkeit junger Künstler, die den Boden für eine moderne iranische Kunst bereiteten. Dieses Phänomen war nicht auf den Iran beschränkt, wie Philip Zobel an den Werken der libanesischen Künstlerin Saloua Raouda Choucair beschreibt. Um 1950 schuf Choucair mit schriftbildlichen, an die arabische Schrift angelehnten Formen eine abstrakte und doch islamisch geprägte Kunst und zeigte damit einen beispielhaften Weg, moderne Werke zu schaffen und gleichzeitig an das arabische Erbe anzuschließen. Zu ihrer Zeit weder erkannt noch anerkannt sind Choucairs Werke als libanesische Kunst arabischer Ausrichtung heute hoch geschätzt. Dass der Autor auch einen historischen Überblick über die stets stark von Frankreich beeinflusste Kunst des Libanon seit dem 19. Jahrhundert gibt, sei am Rande vermerkt.
Anahita Mittertrainer zeigt an Beispielen der iranischer Stadt- und Palastarchitektur ebenso wie an monumentalen Felsreliefs, dass sich iranische Herrscherdynastien zu ihrer Legitimation gerne der Machtsymbole vergangener Dynastien bedienten. Jüngstes Beispiel ist hier die Pahlevi-Dynastie, die sich im Oktober 1971 mit der spektakulären 2500-Jahr-Feier in Persepolis „auf die Schultern“ vermeintlicher Vorfahren stellte und einen historisch begründeten Zusammenhang beschwor. Palastarchitektur ist auch das Thema von Helmut Eberhart, der der Frage nachgeht, warum der 1864 bis 1872 am Bosporus erbaute Çiraĝan-Palast, der wohl prunkvollste Palast des osmanischen Herrscherhauses, fast zur Gänze aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand. Politische, finanzielle und nie wirklich aufgeklärte dynastische Ränke mögen die Ursache sein, dass dem Palast kein Glück beschieden war. Man kann nur hoffen, dass sein Schicksal als Hotel Çiraĝan-Palace-Kempinski ein besseres sein wird. Vom Dach dieses Luxushotels mag man bei klarer Sicht im Süden den Schneegipfel des Uludağ ausmachen. Aus den Dörfern im Dunstkreis dieses 2542 Meter hohen Berges stammen mit feiner Nadelspitze (Oya) eingefasste Tücher, die schon in der besseren Gesellschaft des Osmanischen Reiches geschätzt wurden und heute bei Sammlern als „Yörük-Oya“ oder „Berg-Oya“ hochbegehrt sind. Gérard Maizou und Kathrin Müller erklären an einem Dutzend Beispielen mit Bild und Text Technik, Muster und Farben dieser textilen Kostbarkeiten, die über ihre ästhetische Erscheinung hinaus schon aufgrund der vielfach wiederkehrenden Grundformen wie Dreieck und Raute auch Amulettfunktionen erfüllt haben dürften. Solche typisch anatolischen Objekte zur Abwehr des Bösen und Beschwörung des Glücks – sind dann Gegenstand einer reich illustrierten Typologie von Amulett und Talisman, der eine jahrzehntelange Feldforschung und Sammlungstätigkeit der Autorin Ulla Ther zugrunde liegen. Mit einer fast grenzenlosen Vielfalt an Formen, Materialien und Verfahren, mit der Verwendung von Schriften, Zahlen und Symbolen, der Abbildung von vielerlei Gegenständen oder gar Körperteilen, von Fundstücken, Holz, Glas und edlen Steinen entsteht ein buntes Kaleidoskop dieser mit apotropäischer oder glückbringender Bedeutung aufgeladenen Objekte, die fast immer zugleich auch Schmuckfunktion besitzen. Gleichsam auch als Amulett zu werten und dem Volks- und Aberglauben zuzurechnen ist die Verehrung von Fußabdrücken, die der Prophet und andere verehrungswürdige Menschen in Stein und anderen Materialien hinterlassen haben und die Vervielfältigung in Gebetsteppichen und Textilien gefunden haben. Lorenz Korn untersucht Herkunft und symbolische Bedeutung dieses in der gesamten islamischen Welt – und nicht nur, man denke an den Hinduismus und Buddhismus – vorkommenden Brauchs bis hin zur Aufwertung original getragener Sandalen als Reliquie.
Kein EOTHEN ohne Türkenbeute und so ranken sich auch im aktuellen Band einige Beiträge um das, was bis heute von den Auseinandersetzungen des Osmanischen Reiches mit europäischen Mächten geblieben ist. Oder auch nicht, denn die legendäre osmanische Fahne aus der Münchner Frauenkirche ist wohl in den Wirren des Zweiten Weltkrieges unwiederbringlich untergegangen. Priscilla Pfannmüller geht mit kriminalistischer Akribie den Spuren über Herkunft und Verbleib dieses Artefakts nach und kommt zu dem Ergebnis: „Nichts Genaues weiß man nicht.“ Marcus Pilz rückt diese Erkenntnis dann ins rechte Licht, wenn er, etwa im Vergleich mit den in der Kirche San Stefano in Pisa erhaltenen osmanischen Fahnen und Fahnenfragmenten feststellt, dass die Münchner Fahne doch vieles zu erzählen hat. Ebenfalls Marcus Prinz berichtet über die in den Kunstsammlungen der Veste Coburg verwahrte „Türkenbeute“ und stellt klar, was auch für manch andere Bestände gelten dürfte, dass vieles von der sogenannten Beute als alter Sammlungsbestand zu werten ist und beispielsweise als Geschenk oder Ankauf in die Sammlung gelangte.
Rechnet man die schon erwähnten Oya hinzu, sind es gleich vier Beiträge, die sich mit Textilien befassen. Es ist ein immer wieder erstaunlicher Kulturtransfer, dass prächtige Seidengewebe aus dem islamischen Orient ungeachtet ihrer Herkunft und der meist fremden Symbolik und sogar solche mit arabischen Inschriften im mittleren und hohen Mittelalter vielfache Verwendung als Paramente und in anderen christlichen Zusammenhängen, etwa als Reliqienhüllen oder Grabgewandung fanden. Evelyn Wetter beleuchtet dieses Phänomen wobei sie in ihrem Beitrag den Schwerpunkt auf hispano-mauresque Seidengewebe aus Almeria, Málaga und Granada legt. Anna Beselin versucht, das Rätsel um geheimnisvolle Markierungen zu lösen, die man immer wieder auf den Rückseiten von Teppichen des 14. bis 17. Jahrhunderts findet. Ihre Mutmaßung, sie als Kennzeichnungen für das Tageswerk der Knüpferin, als eine Art „Lohnstreifen“ zu werten , ist überzeugend, vermag sie doch Informationen über die Organisation und Dauer der Herstellung dieser Teppiche zu vermitteln bis zur ursprünglichen Größe von nur als Fragment erhaltenen Stücken. So wird der berühmte Berliner Drachen-Phönix-Teppich im frühen 15. Jahrhundert, legt man heutige Arbeitsstandards zugrunde, wohl in 6 Wochen geknüpft worden sein. Schließlich setzt Ulrich Türk mit seiner 80 Seiten umfassenden, reich bebilderten Monographie über das phrygische Erbe in der anatolischen Textilkunst ein neues Highlight zur Musterforschung. Linear geometrische Flächendekorationen unterschiedlicher Art dürfen um das 8. Jh. v. Chr. als eine bedeutende und mit hohem künstlerischem Intellekt entwickelte, phrygische Innovation bewertet werden. Dass diese Gestaltungsprinzipien einige Gruppen anatolischer Flachgewebe des 19. Jahrhunderts prägen, ist für den Autor kein Zufall, sondern ungebrochene Tradition. Immerhin ist Ulrich Türk inzwischen so altersweise, dass er seine These selbst auf den kunsthistorischen Prüfstand stellt und den Leser auffordert, seinen Überlegungen zu folgen – oder auch nicht.
Das soll dann auch die Botschaft dieses Berichts über die dreiundzwanzig so ganz unterschiedlichen Beiträge in EOTHEN VIII sein: Alle Autoren vertreten zu ihren Themen eine ganz persönliche, wohlbegründete Meinung und überlassen es dem Leser, sich ihr anzuschließen, sie abzulehnen oder kritisch zu hinterfragen. Keine Kritik, sondern nur Bewunderung und Komplimente verdienen indessen die Herausgeber, denen es mit visionärem Idealismus und kreativer Energie gelungen ist, einen solch bunten Strauß von Beiträgen zu islamischer Kunst und Kultur in EOTHEN VIII zu binden und mit dem nun vorliegenden Buch zu publizieren. EOTHEN VIII ist ein must have für Bibliotheken, für Orientalisten, Arabisten, Islamwissenschaftler und Historiker und eine Woche und noch viel länger währendes Lesevergnügen für alle an Kunst und Kultur Interessierten.
EOTHEN VIII kann man bestellen über gdf@wpich.de oder mamoleonhard@web.de.
EOTHEN VIII. Münchner Beiträge zur Geschichte der Islamischen Kunst und Kultur. Werner Joseph Pich und Max Leonhard (Hrsg.), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg im Allgäu 2022, 680 SS., 434 Abb., ISBN 978-3-95976-337-0, 39 €, für Mitglieder 29 €