I
Der Verlag C. H. Beck hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr Fakten und Problemen der islamischen Welt geöffnet und neben einer Anzahl von Einzelmonographien auch eine hochrangige Reihe Neue Orientalische Bibliothek (NOB) herausgebracht, deren einzelne Bände vor allem persischer und arabischer Literatur gewidmet sind; Bürgel selber ist mit drei Titeln in dieser Reihe vertreten ist und hat sich seit Jahren immer wieder mit dem Dichter ‘Attâr sowie mit seinem hier zu besprechenden Werk Musîbatnâma oder Buch der Leiden, aber auch mit dem anderen berühmten Werk, den Vogelgesprächen, befasst. Welche Rolle der im deutschen Sprachraum erzielte Bekanntheitsgrad dieser Reihe, die zu einer inzwischen immer heller strahlenden Leuchtspur der internationalen – und vor allem der deutschsprachigen Iranistik – gespielt hat, mag eine kurze Rückschau verdeutlichen.
Die besagte Leuchtspur begann für ‘Attar mit einer gewaltigen Monographie mit dem schönen, tiefschürfenden Titel Das Meer der Seele – Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farîduddîn ‘Attâr (BRILL, Leiden, 1955) von Hellmut Ritter, ein von atemberaubender Kenntnis strotzendes Kompendium, das auch als Einführung in die islamische Mystik dienen kann.
Mehrere Dezennien später folgte Navid Kermanis geniale Studie Der Schrecken Gottes – Hiob und die metaphysische Revolte (C.H.Beck, München 2003), mit der dieser brillante Autor den Reigen seiner bedeutenden Werke, der 1999 mit dem preisgekrönten Werk Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran (C.H.Beck) begann, fortsetzte. 2014 folgte sein kleinerer Aufsatz Der Aufstand gegen Gott.‘Attar und das Leiden (in Zwischen Koran und Kafka; ursprünglich 2008 in der Zeitschrift Wespennest unter einem etwas anderen Titel).
Kein Wunder, dass auch unser Ehrenmitglied Annemarie Schimmel sich im Rahmen ihrer Beschäftigung mit islamischer Mystik für ‘Attar interessiert hat. Bei C.H.Beck erschienen 1999 ihre Vogelgespräche und andere klassische Texte, worin sie neben dem titelgebenden Werk auch noch zwei andere Hauptwerke ‘Attars, nämlich das Buch Gottes und ‘Das Buch der Leiden, erläutert und in Auszügen nachgedichtet hat. Bernhard Meyer erwähnt das in der Einführung zu seiner Übersetzung und fügt hinzu, Schimmels Kommentare zu dieser Anthologie „enthalten wertvolle Hinweise sowohl zur Philosophie und Theologie ‘Attars als auch zum Verständnis einzelner Begriffe und Redewendungen. Eine Reihe dieser Kommentare wurde in unsere Anmerkungen übernommen“. Meyer gibt übrigens auch Hinweise auf Kermanis Texte zu ‘Attar, so habe er im Schrecken Gottes „den Focus auf die Geschichte der Religiosität gerichtet, die Gott kennt, aber ihm zürnt. Dazu wird die Verbindung zwischen dem Islam ‘Attars, dem Alten Testament (Hiob), der jüdischen Tradition und der westlichen Gotteskritik hergestellt“.
Bereits in den achtziger Jahren gab es mehrere Übersetzungen in andere europäische Sprachen, darunter an erster Stelle 1981 die wohl vollständigste im Buch der Leiden auf Französisch von Isabelle de Gastines mit einer ausführlichen Einleitung von Annemarie Schimmel. 1984 folgten Die Vogelgespräche auf Englisch (Afkham Durbandi und Dick Davis 1984, der in den USA eher als Lyriker bekannt ist), und weitere zwei Jahre später auf Italienisch von Carlo Saccone, mit dem Bürgel mehrfach zusammengearbeitet hatte.
Genannt seien ferner noch die davor erschienene englische Übersetzung des Ilâhînâme von John A. Boyle, 1976), sowie die französische Übersetzung der Tadhkiratu-l-auliyâ. Gedenkbuch der Heiligen mit dem Titel Mémorial des Saints aus dem Uigurischen von Pavet de Courteille 1976. Dieses Buch enthält Wundergeschichten aus dem Leben zahlreicher bekannter Mystiker.
Abschließend ist noch ein späterer umfangreicher Band zu erwähnen, eine Art Gegenstück zu Ritters Meer der Seele, aber auf Englisch, und nicht von einem, sondern von mehreren Verfassern (darunter auch ein Beitrag von Bürgel) ‘Attar and the Persian Sufi Tradition – The Art of Spiritual Flight, Edd. by Leonard Lewisohn & Christopher Shackle. London 2006.
Schließlich erwähnt Bürgel noch einen weiteren Grund dafür, dass er diesen Hinweis auf das neue Buch geben möchte, „obwohl er nun in einem Alter sei (Jahrgang 1931), wo man keine wissenschaftlichen Aufgaben mehr annehmen sollte“.
Es ist der Übersetzer Bernhard Meyer, dessen Name bis zum Erscheinen der Leiden in der deutschsprachigen Iranistik so gut wie unbekannt war. Bürgel aber war sein Name seit einigen Jahren vertraut; hat Meyer doch das gesamte Mathnawi Rumis übersetzt. Die Kenntnis dieser beglückend gelungenen, vorzüglichen Verdeutschung verdanke er dem Präsidenten der Internationalen Mevlana-Stiftung und Scheich der deutschsprachigen Mevlevis, Peter alias Hüseyin Cunz, der ihm das 2005 frisch erschienene Werk – 6 schmale Paperback Bände in einem Schuber – geschenkt habe. Das Buch ist in Konya erschienen, und als Lizenzausgabe auch in Köln (Verlag Kevah Dalir Azar). Dieser grandiosen Leistung wünsche man eine weite Verbreitung.
Die Übersetzung der Leiden vom gleichen Autor Bernhard Meyer steht der des Mathnawi nicht nach, sie ist verlässlich und gut lesbar; sein Name bürgt für Qualität.
Bedürfte es noch eines weiteren Antriebs für den Rezensenten, so wäre es die Tatsache, dass die Einführung von Monika Gronke verfasst ist, altmeisterlich, gut lesbar, mit allen nötigen Informationen.
Dieses Buch ist eine Bereicherung nicht nur für die Reihe NOB, sondern auch für den Verlag C.H. Beck, der damit ein weiteres Mal bewiesen hat, wie sehr ihm die deutschsprachige Orientalistik am Herzen liegt.
II
Auch Monika Gronke, Professorin an der Universität Köln, hebt die Bedeutung des Frankfurter Orientalisten Hellmut Ritter (1892-1971) für die Kenntnis ‘Attars, als einem „der bedeutensten iranischen Dichter und Mystiker des Mittelalters hervor. Ritters Buch nehme im Titel das entscheidende Element der Leiden auf, sei bisher unübertroffen und habe keinen Nachfolger im eigentlichen Sinne gefunden“.
Vom Leben des Autors, der als Pseudonym seine Berufsbezeichnung ‘Attar (Drogist, Apotheker), wählte, weiß man nicht viel. Er wurde wohl um 1145/46 im Nordosten Irans, in Nischapur, geboren, verließ seine Heimatstadt selten und starb dort bei der Eroberung der Stadt durch die Mongolen im April 1220. Ihm werden zwar ca. 114 Werke zugeschrieben, jedoch ist diese Anzahl umstritten. Er war ein frommer Muslim und Mystiker, der von vielen Gelehrten als der größte Dichter der persischen Mystik angesehen wird. Er habe in meisterhaft erzählten Geschichten eine Fülle mystischer Themen durchdacht und veranschaulicht.
Gronke gibt dann eine kurze aber eindrückliche Einführung in das große Thema Islamische Mystik. „Das Ziel des Mystikers ist die individuelle, persönliche Gottesschau bzw. die Vereinigung mit Gott, das Verschmelzen mit ihm oder das Aufgehen, «Entwerden», in ihn. Es geht darum, wie es in der mystischen Literatur bildhaft ausgedrückt wird, den Schleier zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf zu entfernen“. Diese Verschmelzung könne nicht mit dem Verstand, sondern nur durch die Seele gelingen, weshalb der Mystiker versuche, seinen Verstand auszuschalten. Der Weg zu Gott werde als der mystische Pfad betrachtet, auf dem der Gottsucher durch Askese und Disziplin verschiedene Stufen oder Stationen erreichen und überwinden muss.
Armut gilt in der islamischen Mystik als eine grundsätzliche Lebenseinstellung, von der bereits der Prophet Mohammed gesagt habe, sie sei „sein Stolz“. Die Wanderung auf dem mystischen Pfad sei ein schmerzhafter Läuterungs- und Transformationsprozess für die Seele, an dessen Anfang eine vierzigtägige Klausur zu absolvieren ist. Außerdem benötigt der Mystiker unter allen Umständen einen vertrauenswürdigen Meister (pīr), der ihn führt, anleitet und seine Träume und Visionen deutet. Dadurch wird verhindert, dass der Mystiker den Einflüsterungen des Satans erliegt. Der pīr ist insbesondere auch bei der vierzigtägigen Meditation unentbehrlich.
Das Buch der Leiden behandelt nun in vierzig Kapiteln die mystische Pilgerschaft der menschlichen Seele auf der Suche nach Gott, wobei die vierzig Kapitel der vierzigtägigen Klausur entsprechen. Allgemeines Thema des Werkes sind religiöse und mystische Lehren, die durch eine Vielzahl von Geschichten, die wiederum eine geschlossene Rahmenhandlung bilden, vermittelt werden. Die Form der zyklischen Rahmenerzählung gab es bereits im frühen persischen Schrifttum, im indischen Fürstenspiegel Pantschatantra ab dem späten 3. Jh. und ist am besten aus den Erzählungen aus Tausendundeine Nacht bekannt.
Der Pilger wird von einer schmerzhaften Sehnsucht nach Gott gequält und sucht auf seiner Wanderung durch den gesamten Kosmos Erlösung, indem er alle Wesen, die er antrifft um Hilfe bittet. Das ist eine bunte Mischung u.a. von Engeln, dem Schemel Gottes, dem Schreibrohr, Paradies und Hölle, Sonne, Mond und alle Elemente, Berg und Meer, Tiere und Pflanzen. Satan und Menschen bittet er ebenso wie alle Propheten von Adam bis Jesus und Mohammed. Alle Kapitel – die jeweils eigene Themen behandeln – beginnen mit der Bitte des Pilgers, es folgen Rede und Gegenrede, die Interpretationen des Meisters und theologische Belehrung.
Dem Rat Mohammed folgend begibt sich der Pilger zu den letzten 5 Stationen und erhält dort zunächst bei den Sinneswahrnehmungen, dann bei der Vorstellungskraft und dem Verstand nur enttäuschende Mitteilungen. Das Herz als vorletzte (39.) Station deutet der Meister als Sitz der Gottesliebe, und der Gottsucher gelangt von dort zuletzt zur Seele, seiner eigenen, die ihm bedeutet, dass seine Reise durch die äußere Welt vergeblich gewesen, und dass das, was er suche, in ihm selbst verborgen sei. „So wirft sich der Pilger nun in das Meer der Seele, geht in ihm auf und erkennt, dass er selbst der Ursprung allen Seins ist. Die Seele erklärt, sie habe ihn solange wandern lassen, damit er ihren Wert erkenne, denn nur der unter Mühen erworbene Schatz sei kostbar“.
Zwar erfährt der Gottsucher auf seiner Wanderung durch den Kosmos, dass der Mensch einen höheren Rang besitzt als Himmel und Erde, doch hat das Buch „nicht nur eine unvergleichliche religiös-mystische Botschaft, sondern beschreibt auch die diesseitige Welt, in vielen, meist düsteren Farben“. Gronke bemerkt ein paar Zeilen später, „niemand vor ‘Attar hat die Zustände dieser Welt so finster und mitleidlos ohne jeglichen Hoffnungsschimmer und mit so scharfen Formulierungen dargestellt. Ein barmherziger Gott, wie ihn der Koran am Anfang nahezu jeder Sure anredet, scheint die Welt nicht erschaffen zu haben.“ Eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen mit der pilgernden Seele, spielt der Narr, der in wechselnder Gestalt erscheint und den ‘Attar nicht als negative Gestalt, sondern als wissenden Künder wichtiger, oft unerfreulicher Botschaften, agieren lässt.
Die zu jeder Station gehörenden, bis zu 15 kurzen Erzählungen, oft aus dem Schatz der arabisch-persischen Erzählkultur (z.B. Laylā und Madschnūn), die jeweils mit einer „Weisheit“ abgeschlossen werden, sind zwar für den in der islamischen Mystik unbewanderten Leser so etwas wie ein kurzes „Verschnaufen“ nach den teils schwer verständlichen Reden und Gegenreden, doch ist die Lektüre des Werks insgesamt nicht ohne Anstrengung; dem kann auch eine gelobte Übersetzung nicht gänzlich abhelfen.
Was hier nur oberflächlich angedeutet werden kann, vertieft Monika Gronke in vielen Aspekten, beschreibt eine Reihe von Stationen der Pilgerschaft genauer und hilft dem Leser damit, den nicht selten schwierigen „Auseinandersetzungen“ mit den um Hilfe gebetenen „Wesen“ zu folgen. Man kann sie durchaus dankbar als den pīr des Lesers verstehen, übrigens dem einzigen weiblichen Wesen, dem man auf der langen Reise durch den Kosmos des Buches begegnet.
Meyer erläutert in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung, es hätten zwei persische Editionen vorgelegen, die auch bereits Annemarie Schimmel, Navid Kermani und Isabelle de Gastines für ihre Schriften benutzt hätten. Während letzte etwa 60% des aus 7500 Doppelversen bestehenden dichterischen Werks übersetzt hatte, lägen seiner Übersetzung 6200 Verse zugrunde. Er, wie die Französin, hätten sich für Prosaübersetzungen entschieden, um dem Leser einen möglichst unkomplizierten und doch zuverlässigen Zugang zu ‘Attars Werk zu erleichtern. Sowohl das Vorwort, das ein langes und für den Laien schwer verständliches Gotteslob und den Lobpreis der Gefährten des Propheten enthalte, wie auch das lange Nachwort mit weiteren der aus den 40 Stationen bekannten Geschichten habe man aus dem gleichen Grunde weggelassen.
Der Band enthält ein nützliches Glossar und Literaturhinweise in den umfangreichen Anmerkungen.
Farīd od-dīn‘Attar, Das Buch der Leiden Aus dem Persischen von Bernhard Meyer. Unter Mitwirkung von Nasi Shahin, Mehrdad Razi, Tabereh Matejko und Jutta Wintermann. Mit einer Einführung von Monika Gronke, München Verlag C.H.Beck 2017, 399 S. Ln mit SU, ISBN 978 3 406 69762 3 29,95 €
Werner Joseph Pich, der unserem Mitglied Prof. Dr. Johann Christoph Bürgel herzlich für seine Hilfe dankt.