Sehwan Scharif ist heute eine Stadt mit 40.000 bis 50 000 Einwohnern in der Provinz Sindh, Pakistan, am westlichen Ufer der Flusslandschaft des Indus, etwa 100 km nördlich von Hyderabad. Etwa gleich weit nördlich liegt die Wiege der Induskultur, Mohenjo-Daro.
Der Name der Stadt leitet sich von einem uralten hinduistischen Shiva Heiligtum (Sehwan = Shivistan)1) ab, wovon heute noch ein heiliger Stein, ein Shiva Lingnam erhalten ist. Wohl Anfang des 13. Jh. lässt sich hier ein in Marwand (Iran) geborener und 1274 in Sehwan gestorbener berauschter Mystiker nieder, der strengste Askese übt. Er gehört zu der im ostiranisch-mittelasiatischen Raum etwa in dieser Zeit entstandenen Bewegung der Qalandar (Kalender) Sufis 2); sein Name3) Scheich Usman Marwandi. Er soll zahlreiche Wunder gewirkt haben, ist von vielen Legenden umgeben – z.B. habe er seine Pilgerfahrt nach Mekka auf unterirdischen Gängen unternommen – und trägt seinen Ehrennamen „roter Königsfalke“ (Lal Schahbas) nicht nur wegen der Farbe seiner Kleidung – Rot ist die Farbe der Liebesglut -, sondern vornehmlich, weil er von einem der höchsten Hügel der Umgebung in Gestalt eines Falken in den Pandschab geflogen sein soll. Von ihm wird der Ausspruch überliefert „Ich weiß nichts außer Liebe, Rausch und Ekstase“. Sein Grabheiligtum war dafür berüchtigt, dass sich „seltsame Gruppen von Sufis, solche, die das Religionsgesetz nicht achteten“, dort sammelten.
Diese „in Schwarz gekleideten malangs vertreten den unheimlichen Aspekt des Sufismus“ und die „jährliche Feier in Sehwan, die vom 18. bis 22. Shaban 4) stattfindet, war für ihre Ausschweifungen berüchtigt“ 5), so Annemarie Schimmel. Anlässlich ihres ersten Besuchs in dieser Gegend, Anfang der sechziger Jahre des 20. Jh., bemerkte sie, dass die Stadt „noch immer einen Anziehungspunkt für wandernde Derwische bildet – freilich besonders für solche, die sich den offiziellen religiösen Geboten des Islam entziehen und ein seltsam ungeregeltes Leben führen. Es schien nicht angebracht, daß ich diesen Platz besuchte“ 6). Dreißig Jahre später, nach zahlreichen Reisen in Pakistan, offenbart sie den Grund für ihre frühere Zurückhaltung: „Es gab verträumte kleine Plätze, die unendliche Ruhe ausstrahlten, und es gab jenes Heiligtum, das zu besuchen mir nicht gelang, da meine etwas orthodoxe pakistanische „Familie“ in Karachi es unpassend fand, daß ich einen solchen “Ort der Verderbnis“ sah“. In die Zeit, als die Sindhi-Kultur unter Z. A. Bhutto in Pakistan etwas mehr in den Vordergrund trat, „fiel auch mein erster Besuch in Sehwan – das lang ersehnte geschah im Herbst 1974.“ Sie widmet der Episode zwar nur anderthalb Seiten, schließt jedoch das Kapitel mit Anmerkungen, die von starken Eindrücken zeugen und jenseits ihrer sonst zurückhaltende Diktion liegen: “An jenem glühend heißen Tag (43°) war es nicht nötig, die Derwische singen zu hören, ihren Tanz zu sehen. Die Luft schien auch ohne dies aus Feuer zu bestehen. Wir warfen einen kurzen Blick nicht nur in die bunt ausgemalten Derwischzellen, sondern auch in die Tiefen des mysterium tremendum und spürten jenen Wind, der dem Menschen die Haut absengt, ihn ganz und gar entselbst …“ 7) .
Der Ethnologe Frembgen – er hat Pakistan wohl ebenso oft bereist wie Frau Schimmel – erwartet von diesem Ort andere Erfahrungen, von „rauschhaften Erlebnissen in der Menge der Gläubigen, von der Entdeckung eines neuen Gedächtnisortes, eines realen Ortes, der zu einem inneren Ort werden könnte“. Den letzten Anstoß – quasi den Auftrag – zu der im Buch beschriebenen Reise, erhält er beim Besuch des Qalandar-Heiligen Lala Dshi Sarkar, der seit vielen Jahren auf dem „Berg der Berauschten“, etwas südlich des Wallfahrtsortes Nurpur (ca. 240 km westlich von Lahore) lebt.
Die dann auf rund hundertfünfzig Seiten geschilderten „Fünf Tage und Nächte“ reißen den Leser hinein in einen überschäumenden Strudel unmittelbar berührender Erlebnisse. Schon während der langen Zug- und Busfahrt von Lahore in das ca. 1000 km südlich gelegen Sehwan lernt man Menschen kennen, denen man selbst nie begegnen wird, ist gefangen von Sprachen und Geräuschen, allerlei Getier – etwa dem kleinen Wasserbüffel der den Zugang zum Abort verstellt – und der Bemühung, im Chaos von Hitze, Gestank und Lärm etwas Ruhe zu finden.
Am Ziel werden die Verhältnisse keineswegs erträglicher, auch wenn die Freiheit selbständiger Erkundungen von Örtlichkeiten und Ereignissen hinzukommt. Frembgen hat viele hilfreiche Freunde im Lande, die ihm auch in seiner „zweiten Heimat“ 8) weiterhelfen, ihn zu wichtigen Persönlichkeiten (Piirs) führen oder einen Schlafplatz auf den Dach eines Hauses finden lassen. Er kann sich in den gängigen Sprachen und Dialekten verständigen, erfährt viele Hintergründe, die er an den Leser unaufdringlich weitergibt; nie wirkt er belehrend. Das Auge des Ethnologen bleibt stets wach, lässt sich weder durch die ganz selbstverständlich angebotenen Rauschmittel, noch das unaufhörliche Dröhnen der Kesselpauken vernebeln. Der Verstand bleibt auf möglichst vollständige Dokumentation bedacht, trotz unvorstellbarer körperlicher Strapazen in der Masse vieler hunderttausend Pilger.
Auf dem Weg zu einer Verabredung: „… wie gerne würde ich ausruhen, doch es geht weiter. … ein Junge öffnet und führt uns in einen dunklen Innenraum, in dem ein nackter, nur mit einem schwarzen Lendentuch bekleideter Asket an der Wand auf dem Boden sitzt, gestützt auf ein Kissen. Er ist an Hals, Armen und Beinen wie ein Gefangener in schwere Eisenketten gelegt.“ Zu müde, zunächst genauer zu fragen, erfährt Frembgen später, der Asket trage die Ketten einem Gelübde folgend aus Verehrung für den Qalander seit seinem 18. Lebensjahr. In der Nähe des Heiligtums fragt sich der Autor, was der besessene Tanz einer Gruppe schöner Frauen bedeuten könnte, die mit ihren langen Haaren quasi den Boden fegen. „Wird durch die Präsenz und Macht des Qalandars ein übelwollender Geist ausgetrieben? Kämpft der Geist des Heiligen im Körper dieser Frauen mit einem Dämon?“ Andere Frauen tanzen in gelösten Bewegungen zum Klang von Trommeln und Rasseln. Ein Helfer sammelt Geld ein. Sind es professionelle Tanzmädchen?
Die Bilder jagen sich in den fünf Tagen; der Leser erlebt hautnah Teehäuser, Garküchen und ihre Angebote, die Mühe, einen Pilgerstrom in engen Straßen zu kreuzen, Begegnungen mit lockenden Hidschras (Angehörigen des „dritten Geschlechts“), die Farbenglut der Tanzgewänder, orgiastische Klänge der Trommeln, aber auch mystische Gesänge, Derwische aller Gestalt und Herkunft, Gespräche mit Frembgens Gastgebern und Gefährten, Szenen im „Tivoli“, bedrängte Nächte mit zu wenig Schlaf, das unverhoffte Wiedersehen mit alten Freunden, Mitleid mit gequälter Kreatur, die Erfahrung gütiger Menschen und der Nähe Gottes.
Selten las ich einen derart lebendigen Bericht; er ist dicht und packend, kein Wort zu viel, jeder Satz enthält eine willkommene Information. Vermisst man im Buch auf den ersten Blick Fotos, erkennt man bald, dass selbst ein ausführlicher Bildband nicht mehr Informationen bieten könnte, als die genauen und bildhaften Schilderungen des Autors. Das beigegebene ausführliche Glossar ist außerdem hilfreich.
Frembgen, selbst Muslim und ausgewiesener Kenner des Derwischtums, versteht seinen Bericht nicht nur als wissenschaftlich fundierte Darstellung einer „Welt des Archaischen, Magischen und Körperlichen“. Sondern er stellt dem Leser auch einen Islam vor, „der von Vertrauen, Toleranz, Gemeinschaftsgefühl, Trance und rauschhafter Spiritualität geprägt ist, eine lebensfrohe Gegenkultur zur Freudlosigkeit strenggläubiger Muslime“. „Ist nicht die Liebe der glühende Kern des Islam?“. Solche Aspekte diskutiert der Autor am Schluss des Buches in einem wohl teilweise fiktiven Gespräch mit Reisegefährten während der fast zwei Tage dauernden Zugfahrt nach Lahore. Es geht da sehr offen um Gesetzesvorschriften des Islam, die Legitimität von Tanz und Musik, die Frage ob Moscheen heute noch das „Haus Gottes“ sind, die Wirklichkeit „verschiedener Wahrheiten“ im Islam, die Macht der Mullahs und den Einfluss von Koranschulen, um die Taliban und bombenwerfende Extremisten. Die heftigen Diskussionen im Zug enden versöhnlich.
Doch der Leser fragt sich angesichts der Vorgänge im Norden Pakistans, ob ein solches – vom „Volksislam“ geradezu berstendes – Pilgerfest in Sehwan auch in Zukunft noch möglich sein wird?
Der Dokumentarfilm von 3Sat heißt Der rote Sufi – Rausch und Ekstase in Pakistan. Er wurde 2010 auf verschiedenen Filmfestivals sowie im Fernsehen vorgeführt. Termin der Erstausstrahlung im Fernsehen ist Sonntag, 14. August 2011, um 21.45 Uhr auf 3Sat.
Jürgen Wasim Frembgen Am Schrein des roten Sufi. Fünf Tage und Nächte auf Pilgerfahrt in Pakistan, Waldgut Verlag Frauenfeld 2008, 166 S., eine Karte, brosch., ISBN 978-3-03740-389-1, 16,00 €.
Dr. J.W. Frembgen ist Professor an der LMU München, Leiter der Orientabteilung des Staatlichen Museum für Völkerkunde München und Mitglied unserer Gesellschaft. (WJP)
1) Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, Diederichs München 1992; 2) J. W. Frembgen, Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam, C.H.Beck München 2000; 3) Man findet verschiedene Schreibweisen. EI 2 enthält kein eigenes Stichwort. Hier wird die Schreibweise des Autors verwendet; 4) Der siebte Monat im islamischen Mondjahr. Schimmel gibt fälschlich das Datum 18. bis 20. Shawwal an; 5) Schimmel 1992; 6) Annemarie Schimmel, Pakistan. Ein Schloss mit tausend Toren, Füssli Zürch 1965; 7) Annemarie Schimmel, Berge, Wüsten, Heiligtümer. Meine Reisen in Pakistan und Indien, C.H.Beck München 1995; 8) Aus der Website des WDR, mit der ein Film über Frembgens Pilgerfahrt ankündigt wird: www.wdr.de/tv/weltweit/sendungsbeitraege/2009.