Die Aussicht von der Terrasse des Restaurants ist atemberaubend. Eine halbe Stunde wanderten wir bergauf und genossen dann den Blick auf Sarajevo, die Stadt mit ca. 300000 Einwohnern, die – umgeben von grünen Hügeln und Bergen im Hinterland – 1984 Austragungsort der Olympischen Spiele war.
Wir sehen Minarette, die wie Bleistifte die Kuppeln der Moscheen flankieren, dazwischen Kirchtürme, das Kloster der Franziskaner und immer wieder Prachtbauten der Belle Epoque, mal restauriert, mal gezeichnet von Kriegsschäden. Wie Blei liegt die Erinnerung an die schrecklichen Zeiten des Krieges 1992-95, als serbische Scharfschützen einen Ring auf den Hügeln bildeten und die Stadt von oben beschossen. Vier lange Jahre dauerte die Belagerung. Es gab kaum Wasser, keinen Strom, wenig Essen und Tausende von Toten. Auch hier, am Ort, an dem wir essen und den Blick genießen, ereignete sich das Grausame. Jetzt ist statt Schüssen der Ruf des Muezzin zu hören, der die Stadt unter uns im Abendlicht in eine heilige Atmosphäre taucht.
Wir, das ist eine Gruppe von ungefähr 20, die sich eingelassen hat auf etwas, was wir so nicht erwartet hatten. Die „Freunde Islamischer Kunst und Kultur“ wurden auf dieser kurzen Reise (29. Mai bis 3. Juni 2012) zu Beobachtern vornehmlich des Islam aber auch der orthodoxen und der katholischen Kirche in Bosnien und Herzegowina. Wir wurden Zeugen der verworrenen politischen Situation, in der sich die islamischen Bosnier, die katholischen Kroaten und die orthodoxen Serben noch zu oft feindlich gegenüber stehen.
Dass uns Professor Majer begleitete, Mitglied der Gesellschaft, Initiator des Münchner Zentrums für Islamstudien und profunder Kenner des Osmanischen Reichs, war ein Glücksfall. Er fungierte als erste Informationsquelle, so wie der Präsident der Gesellschaft, Max Leonhard, der erste Ansprechpartner und kundiger Fragensteller war. Die Türen in Sarajevo öffnete uns Professor Enes Karic, der 2008/09 ein Jahr lang als Gastprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrte. Diese Gastprofessur sponsert die Allianz SE, nicht zuletzt als Folge von „9/11″. Karic legte uns Muhamed Jugo als Reiseführer ans Herz, der im Krieg mit seiner Familie nach Rosenheim flüchtete, dort zur Schule ging und später an der LMU Politologie studierte. Er ist Imam, schreibt gerade seine Dissertation und absolviert ein Volontariat im Parlament der Föderativen Republik Bosnien und Herzegowina. Jugo begleitete uns während unseres fünftägigen Aufenthalts als kundiger und unermüdlicher Übersetzer. Wir wünschen ihm, dass er bald einen ihm angemessenen Job finden wird, und nicht zu den 44% Arbeitslosen im Lande gezählt werden muss!
Keiner von uns war besonders enttäuscht, dass es in den Museen und Bibliotheken der Stadt nicht gerade Atemberaubendes zu sehen gab. Viel wichtiger wurden die Gespräche an langen Konferenztischen, die Unterweisungen des Großmuftis oder der jeweiligen Scheichs im Derwischkonvent. Die Teilnahme an einem Abendgebet war ritueller Höhepunkt. Wir erlebten die kontemplative Hingabe in einem „zikr“, in dem Gesang und rhythmische Bewegungen mit schwerem Atem zum mystischen Einswerden mit Allah führten. Die Frauen auf der Empore, die Männer eingefügt in den Kreis der Mönche, verfolgten wir die 40-minütige Zeremonie und hatten anschließend Gelegenheit, in angeregter Unterhaltung mit Sprachkundigen Einzelheiten über das Gebet und das Leben im Derwischkloster zu erfahren.
An Tischen mit roten Samttüchern und Mikrofonen hörten wir aus dem Munde von Kardinal Vinko Puljic, Erzbischof von Sarajevo, etwas über die Situation der römisch katholischen Bevölkerung. Sie gehören in Bosnien zu einer Minderheit, in Sarajevo bekennen sich 80% zum Islam – im Lande sind es 46%. Es folgen die Orthodoxen, die ca. 28% ausmachen. Wir hörten viel Geschichtliches, von den Spuren der katholischen Kirche seit dem 5. Jh., den Franziskanern bis 1878, und vom seit 1997 installierten „interreligiösen Rat“, der die Oberhäupter aller Glaubensrichtungen an einen Tisch versammelt. Nicht ganz so friedvoll äußert sich Puljic übrigens in deutschen Medien, dass er mit Sorge die zunehmende Islamisierung des Landes beobachte, auch die mit „Petro-Dollars“ aus Saudi-Arabien entstehenden muslimischen Zentren und Moscheen (die übrigens auch die Bosnier gerne in Arbeitsplätze umtauschen würden). Puljic beklagt die 3000 bis 5000 Wahabiten, die als Anhänger einer radikalen sunnitischen Glaubensrichtung (Staatsreligion in Saudi-Arabien) versuchen, Einfluss in der Gesellschaft zu gewinnen.
Gleich nach unserer Ankunft in Sarajevo wurden wir an der 1480 gegründeten Medresa Gazi Husrev-begova – die mit einem Gymnasium verglichen werden kann – bei Kuchen, Obst und Getränken empfangen. Prof. Karic hatte es sich nicht nehmen lassen, uns gleich zu Beginn über die Organisation des Schulwesens im Lande zu informieren und uns in das islamische Leben in Sarajevo einzuführen. Eingerahmt war der Besuch von einem ersten Rundgang durch die Stadt unter der Führung von Professor Dr. Markus Koller, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, der an der LMU studierte hatte, in Bochum promoviert wurde und sich wiederum in München habilitiert hat.
Leider konnten wir seine kundigen, lebendigen und überaus angenehmen Erläuterungen zu Plätzen, Häusern, Kiosken und Basaren nur wenige Stunden genießen. Von ihm erfuhren wir vieles Historisches, vor allem über die „baulich segensreiche“ österreichisch-ungarische Herrschaft der Habsburger in der Zeit um 1900. Sie lebt fort im „Hotel Europa“ von 1882, das gleich neben unserem (weitaus preiswerteren „Hotel Astra“) lag und uns nostalgisch in die Welt eines großzügigen Wiener Kaffeehauses entführte.
Der Dekan der islamisch-theologischen Fakultät in Sarajevo (in der Professor Karic lehrt) begrüßte uns in dem glanzvoll restaurierten Gebäude am Rande der Stadt aus der Habsburger Epoche. Bis ins 16. Jh. reichen die Wurzeln der Hochschule, die einst als die bedeutendste ihrer Art in Europa galt. Ende des 19. Jh., unter habsburgischer Verwaltung, ist das Recht der Scharia, wie auch das europäische (österreichische) Recht in den Lehrplan aufgenommen worden. Die Hochschule gab sich tolerant und modern mit Lehrveranstaltungen zum Thema Demokratie und Menschenrechte. Bei original bosnischem Essen in der Mensa durften wir uns stärken, und die Gespräche mit dem Dekan vom Konferenztisch fortsetzen.
Zwei Bibliotheken konnten wir besuchen. In der National- und Universitätsbibliothek Bosnien-Herzegowina – früher im Rathaus der Stadt, jetzt provisorisch in einem etwas schäbigen Gebäude untergebracht – zeigte uns der Direktor einige markante Beispiele der dort verwahrten illuminierten Manuskripte, darunter auch solche, die Professor Majer vorher ausgesucht hatte. Ein großer Teil des Bestandes ist wohl noch in den Bananenkisten verpackt, die während des Krieges zur sicheren Auslagerung dienten, und auf die Wiedereröffnung der Bibliothek im eigens dafür errichteten Neubau neben der Medresa warten.
Erschütternder war die Lage in der Bibliothek des Orientalischen Instituts der Universität, wo an einem einzigen Tag, am 17. Mai 1992, eine gezielte Brandgranate nahezu den gesamten Bestand in Schutt und Asche legte. Den Bibliothekaren war der Schrecken und die Trauer noch heute ins Gesicht geschrieben. Bei einer Tasse Tee oder türkischem Mokka konnten wir das halbe Dutzend, teils angekohlter, Handschriften bewundern, die aus dem ursprünglichen Bestand wertvollster osmanischer Dokumente übrig geblieben sind.
Geführt und informiert von Muhamed Jugo, vermittelte uns ein Besuch im Parlament von Bosnien und Herzegowina, wie verworren die politische Situation des Staates ist. Zu den drei auch im Parlament vertretenen Ethnien und den verschiedenen Religionen kommt noch die unterschiedliche Parteizugehörigkeit – wie soll man sich da einigen, wie verhindern, dass ein Pulverfass aufgemacht wird?
Wie Feindschaft ganz real aussieht, nahmen wir bei unserem Ausflug nach Mostar wahr. Dort haben die Kroaten das Sagen – unter einem auf einer Bergspitze errichteten überdimensionalen Kreuz, das wir nur als Provokation deuten konnten.
Sie stellen nach der Vertreibung nun die Mehrheit, und damit den Bürgermeister, der offensichtlich parteiisch regiert und die Bosnier muslimischen Glaubens benachteiligt. Einen „gemischten“ Friedhof sahen wir, wo der Hass auch vor der Totenruhe nicht halt macht und die Kroaten gerade dabei sind, die Überreste ihrer Verstorbenen zu exhumieren, um sie auf rein kroatische Gräberfelder umzubetten.
Die Problematik in dieser Stadt spürten wir später noch einmal hautnah. Der Mufti von Mostar führte uns zunächst durch die alte Tekija aus osmanischer Vergangenheit. Dieser Derwischkonvent unter einer riesigen Felswand am Rande des Ortes Blagaj liegt genau dort, wo aus einer 200 Meter tiefen Felsenhöhle wild sprudelnd der Fluss Buna entspringt.
Nach dem Rundgang durch sein Haus lud uns der Mufti an diesem traumhaft schönen Sommerabend an einer langen gemeinsamen Tafel am Ufer des Flusses zu einem köstlichen Mahl mit frischen Forellen und Getränken nach Wahl – hier wie stets in muslimischer Umgebung ohne Alkohol. Er berichtete von seinen Sorgen vornehmlich über Kroaten, die alles für sich vereinnahmen, den Muslimen keine Luft zum Atmen lassen, bis hin zu offenen Feindseligkeiten. Alle Toleranz, so der Mufti, werde von den Kroaten mit Füßen getreten.
Gewissermaßen aus unserer Sicht schilderte die deutsche Botschafterin, die mit ihrer Dienststelle in einem Gebäude der Europäischen Union quasi als Untermieterin residiert, die Situation im Land. Wir erlebten in Frau Ulrike Maria Knotz, einer geborenen Augsburgerin, die in München aufgewachsen ist, 1973-1979 an der LMU studierte, in den Jahren 2008-2011 Botschafterin in Skopje war und seit Juli 2011 die Botschaft in Sarajevo leitet, eine ebenso beherzte wie offene und freundliche Diplomatin.
Die Bevölkerung ihres Gastlandes – rd. 4,2 Millionen Menschen – stammt zur Hälfte ursprünglich nicht aus Bosnien. Es gibt etwa 100 000 Kriegsopfer, fast täglich finden Gedenkfeiern statt. Der Nachbar ist zum eigenen Feind geworden. Mit dem eignen Clan verbinden die Menschen mehr, als mit ihrem Staat. Das permanente Misstrauen untereinander führt zu größten Schwierigkeiten in der Politik – und daraus resultierend zu einer ineffizienten Wirtschaft. Die Inhaber der Macht haben meist das eigene, und nicht das Interesse des Gesamtwohls im Auge. Und die hohen Geistlichen tauschen auch nicht mehr als nur Grußbotschaften aus. Deutschland sei nicht nur aus alter Tradition, sondern auch deshalb recht gut angesehen, weil seine Wirtschaft Arbeitsplätze im Lande schafft.
Die Begegnung mit Mustafa Ceric, dem Großmufti von Sarajevo und damit Oberhaupt der Muslimischen Gemeinde des Landes, hatte eher weltanschaulichen Charakter – vielleicht auch deshalb, weil eine direkte Kommunikation in englischer Sprache möglich war. „Was tust Du“ wurde er vom Dalai Lama einmal gefragt. Seine Antwort lautete, „Ich achte auf mich“. Er ist, so Ceric, in Bosnien und Herzegowina verantwortlich für sechs Medresen, 1000 Islamlehrer an Schulen, für 9 Muftis, drei islamische Hochschulen und 2000 Moscheen, wovon 600 im Krieg oder durch Naturgewalten zerstört wurden.
Auf unsere Fragen, wie der Einfluss Saudi-Arabiens zu bewerten sei, meinte Ceric, dass sie zwar prominente Moscheen bauten, doch bliebe die Aufsicht und die Lehre bei den Bosniern. Die westliche und die islamische Gesellschaft sind in seinen Augen Zwillinge, ganz nah beieinander, mit ganz ähnlichen Vorstellungen und gerade deshalb oft im Streit. Nähe führe eher zu Konflikten als weltanschauliche Ferne; das werde z.B. deutlich, wenn man den Islam und den Buddhismus nebeneinander sehe. Die Frage, wer wir sind führe zu Konfusionen. Wir seien kein Universum sondern ein „Multiversum“, konfrontiert mit der schwierigen Frage nach dem Wie der Krisenbewältigung. Die Vertreter des Glaubens ermutigten die Menschen zum friedlichen Zusammenleben. Der Glaube sei das eine, die vom Menschen gemachte Religion das andere. Jeder Mensch erhalte das Geschenk zu glauben in die Wiege gelegt; es liege an ihm, das Geschenk anzunehmen. Wir seien alle gefordert, Antworten zu politischen und wirtschaftlichen Krisen zu geben, doch mache uns das auf der einen Seite mächtig, auf der anderen schwach. Freiheit aber sei das höchste Gut, denn sie produziere ein Leben in Qualität, wie alle postkommunistische Gesellschaften wüssten. Leider aber drohe heute sowohl die Politik, wie auch die Gesellschaft zu kollabieren.
Ceric ist es gewohnt, in langen Statements seine Meinung „zu Gott und der Welt“ kundzutun; davon zeugt auch die Website der Islamska Zajednica u Bosni i Hercegovini, auf der kurz nach unserem Besuch ein Bild unserer Reisegruppe erschien.
Alle Teilnehmer waren begeistert von der äußerst interessanten und wunderbaren Reise, von ebenso instruktiven wie gastfreundlichen, herzlichen und oft bewegenden Begegnungen. Alle Organisatoren, die diesen ungewöhnlichen Einblick in die Stadt, das Land und den Islam ermöglichten, verdienen großen Dank!
Den Bericht schrieb Dr. Ulrike Besch, alle Fotos – ausser dem auf der Website – sind von WJP.
Die im Bericht von Ulrike Besch geschilderten – oft verwirrenden – Ereignisse haben alle Teilnehmer tief beeindruckt. Unser langjähriges Mitglied Eva Schätz, staatlich geprüfte Übersetzerin und mit einem Programm „Englisch für Kinder und Business“ beruflich unterwegs, macht uns auf einige fotografische Reiseerinnerungen ihrer facebook-Seite aufmerksam, und ergänzt ihren Hinweis mit Worten, die wohl allen Reisenden aus dem Herzen gesprochen sind: „Die Reise war so ein fantastisches Erlebnis, die Geschichte Bosniens so bewegend, so nah, so tragisch, das Land, seine Landschaften, Dörfchen und Städte vor allem so wunderschön, und nicht zuletzt die Gruppe so liebenswert.“
Die Kollage kann den abstrakten Zauber der Fotos von Eva Schätz nicht wiedergeben; der überrascht übrigens nicht, wenn man die besonderen Interessen liest, wie sie in der „Liste der Mitglieder und ihre Interessen“ notiert sind: Sufismus, Märchen und Mystik; (auch neo-)Islamische Architektur, Keramik, Waffen; Ornamentik – besonders sehr abstrakte – und Kalligraphie; Afro-Islamische Kunst.
Die drei vollständigen „Foto-Alben“ findet man hier: Zum einen architektonische und kunsthandwerkliche Motive, Eindrücke von Handschriften sowie Kalligraphien auf Wänden innerhalb und außerhalb von Bauwerken, die wir sahen. Dazu weitere architektonische Impressionen incl. einem Blick auf das nächtliche Sarajevo von dem Restaurant aus, das auch Frau Besch erwähnt.
Während der Reise blieben viele Fragen offen. Die Gruppe traf sich deshalb Anfang September noch einmal zu einem Informationsabend, wo insbesondere die Hintergründe der bis heute nicht gelösten ethnischen und politischen Probleme der Region ausgeleuchtet wurden. Dazu gab Oberst a.D. Wolf Kunold, der mit dem Schicksal der Region aufgrund seiner militärischen und diplomatischen Erfahrungen dort bestens vertraut ist, einen sehr eindrücklichen Bericht.